Stärke und Verletzlichkeit
"Wenn der Stier nicht kommt" heißt Adi Weinbergs neues Solotanzstück, das in Residenz in der Potsdamer fabrik entstand und jetzt dort uraufgeführt wurde.
Der Titel ist eine Anspielung auf die mythologische Gestalt der Pasiphae, die die Tochter des Sonnengottes Helios war, sich in einen Stier verliebte und mit ihm den Minotaurus – ein Wesen mit menschlichem Körper und Stierkopf – zeugte. Und die damit den Ausbruch aus sozial und kulturell vorgegebenen (Frauen-) Rollen vollzog.
Frauen kämpfen zwar immer noch mit gesellschaftlichen Zwängen und Vorurteilen, aber mindestens genauso stark ringen sie auch, z. B. wenn sie sich im Hinblick auf ihre geschlechtliche Identität zumeist noch binär – weiblich oder männlich – definieren müssen.
Die (äußerlich weiblich gelesene) Tänzerin kommt zu Beginn von "If the bull won’t come" wie die Zuschauer:innen von draußen auf die gänzlich weiße und leere Bühne, die eine perfekte Projektionsfläche ist.
Sie ist dunkelviolett gekleidet. Dieser Farbe wird eine geheimnisvolle, fast mystische Wirkung zugesprochen. Sie ist sowohl religiös konnotiert (steht für Buße, Spiritualität, Würde) und drückt gleichzeitig Frauenliebe und Unabhängigkeit (wie sie Sappho auf der Insel Lesbos besang) aus.
Im 19. Jahrhundert wurde violett von der Frauenbewegung neu entdeckt und steht seitdem als Symbol für die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern. Adi Weinberg trägt sie mit Grazie und auch die dunklen Pumps, die sie anhat, haben über die Jahrhunderte einen Bedeutungswandel erfahren.
Stehen sie in der Gegenwart immer noch für die Objektifizierung von Frauen, waren sie seit dem 17. Jahrhundert (auch) ein Statussymbol privilegierter Männer. Weinberg läuft in ihnen wenige Runden auf dem weißen Tanzboden, ehe sie sich ihrer einer nach dem anderen entledigt. Jetzt steht sie barfüßig, gleichzeitig tastend und fest auf dem Boden und beginnt ihren imaginären und gleichwohl intensiven Tanz mit dem "Stier".
Dieser "erscheint" als dunkel-dräuende, mal heiser-gebrochene, zuweilen glockenklingelnde Ton- und Energiespur von Filipe Gomes und die israelische Gaga-Tänzerin und –Lehrerin Adi Weinberg verkörpert beide Figuren mit/in ihrem eigenen gleichzeitig geschmeidig-starken und fragilen Körper.
Diese Zweieinigkeit, im Sinn von sowohl-als-auch, ist am besten zu sehen, wenn sie beispielsweise mit beiden Händen auf ihre eigenen Schulterblätter fasst, wie, um sich vor den spitzen Hörnern des mächtigen Tieres zu schützen.
Ihre nackten angewinkelten Ellenbogen wirken dabei jedoch selbst wie Waffen. Was ist hart, was weich, was ist domestiziert, was wild, sind Fragen mit denen sich "If the bull won’t come" auch befasst. Weinberg verkörpert beide Charaktere: die Frau, die sich hingibt und den nicht domestizierten Charakter des wilden Tieres. Auch in sich selbst. Das ist es, was dieses Solo so intensiv und berührend macht.
Am organischsten ist diese "Begegnung", wenn die Frau mit sich selbst am Boden liegt, gleichzeitig über diesen zu fließen/fliegen scheint – einmal passiert das zu Beginn – da ist sie noch "allein" und später, als sie ihr dunkelviolettes Oberteil ablegt und barbusig ihre (weibliche) Weichheit offenbahrt.
Astrid Priebs-Tröger