Stärke und Verletzlichkeit

"Wenn der Stier nicht kommt" heißt Adi Wein­bergs neu­es Solo­tanz­stück, das in Resi­denz in der Pots­da­mer fabrik ent­stand und jetzt dort urauf­ge­führt wurde.

Der Titel ist eine Anspie­lung auf die mytho­lo­gi­sche Gestalt der Pasi­phae, die die Toch­ter des Son­nen­got­tes Heli­os war, sich in einen Stier ver­lieb­te und mit ihm den Mino­tau­rus – ein Wesen mit mensch­li­chem Kör­per und Stier­kopf – zeug­te. Und die damit den Aus­bruch aus sozi­al und kul­tu­rell vor­ge­ge­be­nen (Frau­en-) Rol­len vollzog.

"If the bull won’t come", Foto: Jonas Zeidler

Frau­en kämp­fen zwar immer noch mit gesell­schaft­li­chen Zwän­gen und Vor­ur­tei­len, aber min­des­tens genau­so stark rin­gen sie auch, z. B. wenn sie sich im Hin­blick auf ihre geschlecht­li­che Iden­ti­tät zumeist noch binär – weib­lich oder männ­lich – defi­nie­ren müssen.

Die (äußer­lich weib­lich gele­se­ne) Tän­ze­rin kommt zu Beginn von "If the bull won’t come" wie die Zuschauer:innen von drau­ßen auf die gänz­lich wei­ße und lee­re Büh­ne, die eine per­fek­te Pro­jek­ti­ons­flä­che ist.

Sie ist dun­kel­vio­lett geklei­det. Die­ser Far­be wird eine geheim­nis­vol­le, fast mys­ti­sche Wir­kung zuge­spro­chen. Sie ist sowohl reli­gi­ös kon­no­tiert (steht für Buße, Spi­ri­tua­li­tät, Wür­de) und drückt gleich­zei­tig Frau­en­lie­be und Unab­hän­gig­keit (wie sie Sap­pho auf der Insel Les­bos besang) aus.

Im 19. Jahr­hun­dert wur­de vio­lett von der Frau­en­be­we­gung neu ent­deckt und steht seit­dem als Sym­bol für die Gleich­stel­lung zwi­schen den Geschlech­tern. Adi Wein­berg trägt sie mit Gra­zie und auch die dunk­len Pumps, die sie anhat, haben über die Jahr­hun­der­te einen Bedeu­tungs­wan­del erfahren.

Ste­hen sie in der Gegen­wart immer noch für die Objek­ti­fi­zie­rung von Frau­en, waren sie seit dem 17. Jahr­hun­dert (auch) ein Sta­tus­sym­bol pri­vi­le­gier­ter Män­ner. Wein­berg läuft in ihnen weni­ge Run­den auf dem wei­ßen Tanz­bo­den, ehe sie sich ihrer einer nach dem ande­ren ent­le­digt. Jetzt steht sie bar­fü­ßig, gleich­zei­tig tas­tend und fest auf dem Boden und beginnt ihren ima­gi­nä­ren und gleich­wohl inten­si­ven Tanz mit dem "Stier".

Die­ser "erscheint" als dun­kel-dräu­en­de, mal hei­ser-gebro­che­ne, zuwei­len glo­cken­klin­geln­de Ton- und Ener­gie­spur von Fili­pe Gomes und die israe­li­sche Gaga-Tän­ze­rin und –Leh­re­rin Adi Wein­berg ver­kör­pert bei­de Figu­ren mit/in ihrem eige­nen gleich­zei­tig geschmei­dig-star­ken und fra­gi­len Körper.

Die­se Zwei­ei­nig­keit, im Sinn von sowohl-als-auch, ist am bes­ten zu sehen, wenn sie bei­spiels­wei­se mit bei­den Hän­den auf ihre eige­nen Schul­ter­blät­ter fasst, wie, um sich vor den spit­zen Hör­nern des mäch­ti­gen Tie­res zu schützen.

Ihre nack­ten ange­win­kel­ten Ellen­bo­gen wir­ken dabei jedoch selbst wie Waf­fen. Was ist hart, was weich, was ist domes­ti­ziert, was wild, sind Fra­gen mit denen sich "If the bull won’t come" auch befasst. Wein­berg ver­kör­pert bei­de Cha­rak­te­re: die Frau, die sich hin­gibt und den nicht domes­ti­zier­ten Cha­rak­ter des wil­den Tie­res. Auch in sich selbst. Das ist es, was die­ses Solo so inten­siv und berüh­rend macht.

Am orga­nischs­ten ist die­se "Begeg­nung", wenn die Frau mit sich selbst am Boden liegt, gleich­zei­tig über die­sen zu fließen/fliegen scheint – ein­mal pas­siert das zu Beginn – da ist sie noch "allein" und spä­ter, als sie ihr dun­kel­vio­let­tes Ober­teil ablegt und bar­bu­sig ihre (weib­li­che) Weich­heit offenbahrt.

Astrid Priebs-Trö­ger

19. November 2022 von Textur-Buero
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