Aus der Rolle fallen

Schwan­ge­re Frau­en ken­nen es gut: Schon kurz nach Bekannt­ga­be des freu­di­gen Ereig­nis­ses wer­den sie nach dem Geschlecht ihres zukünf­ti­gen Kin­des gefragt. Denn bereits Win­del­ho­sen wer­den heut­zu­ta­ge "geschlech­ter­ge­recht" pro­du­ziert.  Die 31-jäh­ri­ge Autorin Sarah Trilsch hat mit "Wenn Pin­gui­ne flie­gen" ein Stück geschrie­ben, das mit Geschlech­ter­rol­len lust­voll spielt und Kin­der ab neun Jah­re ein­lädt, dies eben­falls zu tun.

Am 8. Febru­ar kam "Wenn Pin­gui­ne flie­gen" am Hans Otto Thea­ter zur Urauf­füh­rung, denn das The­ma Geschlech­ter­rol­len­ste­reo­ty­pe erlebt in Zei­ten zuneh­men­der Pin­ki­fi­zie­rung von Mäd­chen und den rück­wärts­ge­wand­ten Geschlech­ter­rol­len­vor­stel­lun­gen der auf­stre­ben­den Neu­en Rech­ten unge­ahn­te Brisanz.

Die acht- bis zehn­jäh­ri­gen Thea­ter­be­su­cher wir­ken in ihren Jeans und Pull­overn auf den ers­ten Blick geschlechts­neu­tral. Doch schon an den Far­ben ihrer Ober­tei­le ist abzu­le­sen, wer in wel­che Schub­la­de gehört. Und natür­lich haben alle Mäd­chen lan­ge und die Jun­gen kur­ze Haa­re. Es ist lei­der kei­ne Aus­nah­me von die­ser Regel zu erken­nen!  Scha­de eigent­lich, denn Anto­nia,  die Hel­din des Stü­ckes, traut sich, ihre lan­gen Haa­re ein­fach abzuschneiden.

Auch wenn sie dafür von ihrer älte­ren Schwes­ter Anne­ma­rie  zu hören bekommt, "dass die ande­ren Mäd­chen sie aus­la­chen wer­den" und bei­der Mut­ter meint, "dass Toni total ver­dreht sei". Vor allem Letz­te­res ver­un­si­chert den Teen­ager kurz­zei­tig. Doch Anto­nia hat momen­tan nur eines im Sinn: Sie will den neu zuge­zo­ge­nen Nach­bars­jun­gen Karl ken­nen­ler­nen. Und als sie merkt, dass die­ser sie für einen Jun­gen hält, spielt sie dies bereit­wil­lig mit.

Einer­seits, weil sie (noch) kein Inter­es­se an den Bemü­hun­gen ihrer Schwes­ter, schnellst­mög­lich „erwach­sen“, sprich: sexu­ell attrak­tiv zu wer­den, hat. Ande­rer­seits ist sie per­ma­nent auf der Suche nach einer eige­nen Iden­ti­tät, die neben Bar­bie-Samm­lung und Kera­mik­ver­ein auch Platz für Fuß­ball­spie­len und Schwert­kampf bie­tet. Und: mit Karl kann sie über (fast) alles offen reden.

Her­vor­ra­gend an Sarah Trilschs Stück ist, dass Karl in der glei­chen Situa­ti­on ist und Anto­ni­as Suche nach der eige­nen (weib­li­chen) mit der nach sei­ner (männ­li­chen) Iden­ti­tät spie­gelt. Bereits in den ers­ten Momen­ten bei­der Begeg­nung wird deut­lich, dass er auch er nicht in die gän­gi­gen Schub­la­den passt: Er hasst Gewalt und liebt sozia­le Rollenspiele.

In der Insze­nie­rung haben die drei Dar­stel­ler aus­rei­chend Gele­gen­heit, in poin­tier­ten Dia­lo­gen sowie mit einer Men­ge Kör­per­ein­satz das The­ma Geschlech­ter­ste­reo­ty­pe zu dekli­nie­ren. Das wie ein Hoch­bett anmu­ten­de Büh­nen­bild bie­tet ihnen dafür Spiel­räu­me auf zwei Ebe­nen an. Lui­sa Char­lot­te Scholz star­tet als Anne­ma­rie mit flie­der­far­bi­ger Kunst­haar­pe­rü­cke und wach­sen­der Kos­me­tik­samm­lung einen eige­nen You­tube-Kanal. Sie scheint sich – so ein gän­gi­ges Kli­schee für Mäd­chen in die­sem Alter – nur für ihr Äuße­res und "süße" Jungs zu interessieren.

Laris­sa Aimée Breid­bach gibt ihrer Toni abwech­selnd zar­te und kräf­ti­ge Züge und spielt die Brü­che in ihrer Rol­le über­zeu­gend. Breid­bach scheint die idea­le Ver­kör­pe­rung des geflü­gel­ten Sat­zes "Gute Mäd­chen kom­men in den Him­mel, böse über­all hin" zu sein. Johan­nes Hein­richs ist in der glei­chen Situa­ti­on und spielt seine/n Karl/a mit schö­ner Sensibilität.

"Wenn Pin­gui­ne flie­gen" ist jedoch kein vor­der­grün­di­ges "Gender-Bender"-Stück, son­dern erzählt auch die Geschich­te einer Freund­schaft – und von Schmerz und Einsamkeit.

Denn hin­ter allen Rol­len­spie­len ver­steckt sich die Sehn­sucht aller nach einem Gegen­über, mit dem er/sie Pfer­de steh­len kann. Und als dies allen Betei­lig­ten zu däm­mern beginnt, und sie aus ihren gelern­ten, aus­ge­such­ten oder vor­ge­schrie­be­nen Rol­len fal­len, ist ech­te Gemein­schaft möglich.

Die­se locker insze­nier­te Bot­schaft quit­tier­te das jun­ge Publi­kum am Ende mit viel Applaus. Und: zum Glück gab es kei­ne laut­star­ke Abwer­tung – wie sie auf Schul­hö­fen jeder­zeit mög­lich ist – als Karl sich für alle sicht­bar in Kar­la verwandelte.

Astrid Priebs-Trö­ger

 

10. Februar 2017 von admin
Kategorien: Alltagskultur, Theater | Schlagwörter: , , | Schreibe einen Kommentar

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