Höher, schneller, weiter?

Mit Maschi­nen­ge­räu­schen, zer­split­tern­den Melo­nen und Ball-Jon­gla­ge über­rasch­ten die Pots­da­mer Tanz­ta­ge an ihrem letz­ten Abend. Nach fast vier­zehn Tagen mit unge­mein kon­trast­rei­chem Pro­gramm, das mit dem hoch­en­er­ge­ti­schem Pro­log "Le Grand Con­ti­nen­tal" im Lust­gar­ten begann, fei­er­ten sie ihr tro­pisch hei­ßes Fina­le zwi­schen Wasch­haus-Are­na, fabrik und T‑Werk.

Le Grand Continental/Foto: Clau­dia Con­stan­ze Lorenz

Tropisch heißes Finale

Den Abschluss­abend eröff­ne­te "Con Gra­zia" von Mar­tin Mes­sier und Anne The­ri­ault aus Mont­re­al, die in ihrer von elek­tro­ni­schen Klän­gen und mecha­ni­schen Robo­tern getrie­be­nen Per­for­mance diver­se Objek­te zer­trüm­mer­ten. Mit Gummi‑, Holz- oder Zim­mer­manns­häm­mern und Schutz­bril­len bewaff­net, schlu­gen The­ri­ault und Mes­sier anfangs auf ball­gro­ße Glas­ku­geln oder rote Weih­nachts­ku­geln, spä­ter auf rei­fe Äpfel, Papri­ka und Melo­nen ein.

Die dabei live erzeug­ten Geräu­sche über­tru­gen sich über Tische, die die Geräu­sche abnah­men und/oder ver­stärk­ten, in die im Vor­hin­ein erzeug­te elek­tro­ni­sche Par­ti­tur von Mar­tin Mes­sier, die die vor­wie­gend im Zwie­licht statt­fin­den­de Objekt-Cho­reo­gra­fie orga­ni­sier­te und steu­er­te. Der kana­di­sche Kom­po­nist und Video­künst­ler ver­sucht in sei­nen Per­for­man­ces mit All­tags­ge­gen­stän­den und erfun­de­nen Maschi­nen, die­sen das Wort ertei­len und die hier­ar­chi­sche Bezie­hung zwi­schen Musik und Cho­reo­gra­fie umzukehren.

Con Grazia/Foto: Mar­tin Messier

Maschinengetriebene (Objekt-)Performance

In "Con Gra­zia" gelingt dies auf manch­mal alp­traum­haft ver­stö­ren­de Wei­se – wie in der Sequenz, als die Per­for­mer mit Base­ball­schlä­gern roh klat­schend auf Qua­der und Wür­fel ein­schla­gen. Oder wenig spä­ter in einer live gefilm­ten Video­se­quenz lust­voll bru­tal eine rei­fe Toma­te pene­trie­ren. Den bei­den Por­zel­lan­tas­sen, einem Sah­ne­känn­chen und der Zucker­do­se geschieht indes kein Leid. Das Geschirr voll­führt, gelenkt von den gleich­för­mig mecha­ni­schen Bewe­gun­gen von vier Robo­ter­ar­men, einen klir­rend gra­ziö­sen, fast klas­sisch anmu­ten­den Tanz.

Mensch­li­che Hand­ar­beit war dage­gen die Abschluss­auf­füh­rung des letz­ten Fes­ti­val-Abends "Human­o­pte­re" von Clé­ment Dazin aus Straß­burg. Doch auch hier jon­glie­ren die sechs Män­ner anfangs zu mecha­nisch vor­wärts­trei­ben­den Maschi­nen­klän­gen. Was direk­te Aus­wir­kun­gen auf ihre jahr­tau­sen­de­al­te ele­gan­te Bewe­gungs­kunst hat. Beson­ders ein­drück­lich zu spü­ren in der Sze­ne, als die sechs, jeder in einem Licht­qua­drat wie an einem Schreib­tisch sit­zend, im Takt der ener­vie­ren­den Ton­spur stak­ka­to­ar­tig ihre klei­nen wei­ßen Bäl­le kurz krei­sen und  dann im glei­chen Takt abrupt und sehr hart auf den Boden fal­len lassen.

Humanoptere/Foto: Dan Ramaen

Parallelen zur modernen Arbeitswelt

Die Maschi­nen-Sze­nen aus Chap­lins Film "Moder­ne Zei­ten" kamen einem da sofort in den Sinn. Dazin  zieht in "Human­o­pte­re" (deutsch: Men­schen­op­fer) durch­aus die­se Par­al­le­len zur moder­nen Arbeits­welt. In der der Ein­zel­ne oft unge­mein wag­hal­sig jon­glie­ren muss, um für sich und gegen die Ande­ren im Team zu bestehen. Wer ver­sagt, wird – auch in Dazins Insze­nie­rung – gna­den­los aussortiert.

Aber ist die­ses ewi­ge "Schnel­ler, Höher, Wei­ter" über­haupt noch men­schen- und zeit­ge­mäß? In einer Welt, in der die natür­li­chen Res­sour­cen erschre­ckend schnell zur Nei­ge gehen und immer mehr Men­schen im  Burn­out enden.  Dazin zeigt in sei­ner lan­ge nach­wir­ken­den Insze­nie­rung auch Alternativen.

Sei­ne Män­ner, die frei­wil­lig und unge­mein krea­tiv in einer, ihrer Grup­pe zusam­men­wir­ken, besit­zen nicht nur eine sehr unter­schied­lich aus­ge­präg­te Rücken­mus­ku­la­tur, son­dern auch sehr indi­vi­du­el­le artis­ti­sche Fähig­kei­ten, die sie auch ein­zeln im Schein­wer­fer­licht blitz­licht­ar­tig prä­sen­tie­ren dürfen.

Humanoptere/Foto: Daja­na Lothert

Alternativen und gesellschaftspolitischer Bezug

Dazin zeigt, wie es schon Marx und Engels im "Kom­mu­nis­ti­schen Mani­fest" pro­kla­mier­ten, dass die Frei­heit des Ein­zel­nen die Vor­aus­set­zung für die Frei­heit aller ist. Wun­der­bar, wie sich selbst­stän­di­ge Indi­vi­du­en, die ihren eige­nen Impul­sen fol­gen und offen für­ein­an­der sind, in einer Grup­pe gegen­sei­tig  ergän­zen und ein­an­der ver­stär­ken können!

Wie gut, dass  die Macher der Pots­da­mer Tanz­ta­ge bei den ein­ge­la­de­nen Insze­nie­run­gen immer wie­der einen sol­chen gesell­schafts­po­li­ti­schen Bezug suchen und sich gera­de die­ses Fes­ti­val nicht an "rei­ner" Kunst abar­bei­tet. Über 7.500, zumeist begeis­ter­te Besu­cher waren 2018 der Lohn dafür.

Astrid Priebs-Trö­ger

 

 

 

 

 

 

 

11. Juni 2018 von admin
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