Im Nebel – fließend
Eine Bibliothek ist nicht gerade ein Ort, an dem man sich eine Tanzperformance vorstellen kann. Doch das diesjährige Made in Potsdam-Festival hat wie schon 2018 mit dem ehemaligen Stasigefängnis in der Lindenstraße den ungewöhnlichen Tanzräumen in Potsdam einen weiteren hinzugefügt.
Anita Twarowska und Murillo Basso führten in der Stadt- und Landesbibliothek ihre Performance "Here we are" zwischen Bücherregalen, Sitzgruppen, der zentralen Ausleihe und zwei Freitreppen, die in die oberen Geschosse führen, auf.
Und als Zuschauer:in war man eingeladen, diesen fluiden Prozess intuitiv mit zu verfolgen. Also bei Bedarf den Ort zu wechseln, um ganz nahe an den Tanzenden zu sein oder einfach stehen zu bleiben und nur Ausschnitte der Performance, die wie ein/im Schatten zwischen den Regalen wanderte, wahrzunehmen.
Nahezu unmerklich war deren Beginn. Ohne deutliches Signal bewegten sich beide Tänzer:innen die zwei Treppen hinunter. Fast synchron und wie in Zeitlupe. Anita Twarowska in ihrer grünen Seidenbluse wirkte mit den ausgebreiteten Armen dabei beinahe wie ein Geist.
Die Performer:innen schienen einander nicht wahr zu nehmen, bewegten sich aber mit ähnlicher Energie, waren sehr präsent, vor allem durch ihre große Langsamkeit. Sie nahmen einen jeweils ähnlichen Raum ein und trugen nahezu identische grün-schwarze Kostüme. Am letzten Absatz der Treppe angekommen, bewegten sie sich bis zu den sieben Regalreihen, tauchten dort mehrfach in denselben Gang ein, und schwebten dennoch aneinander vorbei.
Kein Blickkontakt entsteht zwischen ihnen, sie scheinen wie von Zauberhand oder wie durch eine Wand getrennt. Dieser Zustand nimmt Bezug die zwei Jahre währende Corona-Pandemie, in der die beiden mehr als 10.000 km entfernt voneinander lebten und auf der Suche waren, wie sie außerhalb der Digitalität echte Nähe herstellen und weiter künstlerisch arbeiten könnten.
Das Rohmaterial, das sie während der Pandemie erarbeiteten, archivierten und durch andere Künstler:innen bearbeiten ließen, ist jetzt Bestandteil von "Here we are". Einen Teil davon kann man sich auf Hör- und TV-Stationen, die im gesamten Foyer der Bibliothek verteilt sind ansehen/-hören.
Beispielsweise auf der aus vielen Dreiecken bestehenden Videoskulptur in der Nähe des Eingangs, die Ohren, Haut, Falten der beiden Tänzer:innen sehr direkt und vergrößert zeigt. In ihrer Nähe befindet sich eine Interview-Station, auf der man ein Gespräch zwischen Murillo Basso und dem brasilianischen Kunst- und Architekturkritiker Guilherme Wisnik anhören kann. Sein Essay "Dentro do Nevoeiro" (2018), auf Deutsch "Im Nebel" ist der Ausgangspunkt der performativen Arbeit und der entstandenen Installationen.
"Nebel" steht darin als Metapher für postmoderne gesellschaftliche Entwicklungsprozesse, z. B. die Aufhebung der Dualität von "Freund" und "Feind" nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, Gebäude im Nebel wie das "Blur Building", die Cloud im Internet oder auch die flüchtigen Wolken des Finanzkapitals. Es läuft auf die Frage hinaus, wie man am "Ende der Geschichte", im daraus entstandenen Nebel leben kann?
Guilherme Wisnik erzählt, dass brasilianische indigene Völker denken, dass gerade im Nebel, der sich im Urwald öfter wie eine Decke über alles legt, Transformation möglich ist; für diese Menschen bedeutet es vor allem, langsam zu werden und sich der Entschleunigung auch innerlich hinzugeben.
Die Bibliothek, in der "Here we are" stattfindet, ist selbst ein Ort mit vielen (Ge-) Schichten und bietet an sich kaum Platz für neue Projektionen. Kann man eine weitere (Ge)Schicht(e) hinzufügen? Anita Twarowska und Murillo Basso gelingt das durch ihre starke energetische und mentale Präsenz, die vor allem durch Achtsamkeit, Langsamkeit und Verbundenheit definiert ist.
Nach vierzig Minuten kamen sie vor dem letzten Regal in der Nähe des Eingangs an. Hier war/ist der leere/offene Raum für eine Begegnung. Über tänzerische Kontaktimprovisation wird schließlich Augenkontakt, Begegnung möglich.
Die zumeist schemenhafte, ungreifbare Atmosphäre der intensiv nachwirkenden Performance wurde durch ebensolche Sound- und Videocollagen von Nicolas Schulze, Oscar Loeser und Clemens Kowalski sowie das viel mit Schatten arbeitende Lichtdesign von MxM unterstützt.
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland."