Was alles ist Tanz?
Vom Tschaikowski-Ballett "Schwanensee" hat wohl jede:r schon mal etwas gesehen oder gehört. Es entstand Ende des 19. Jahrhunderts und gehört seitdem zum Standardrepertoire klassischer Ballettkompanien. Und während das (tragische) Liebesthema auch heute noch berühren kann, ist der "Tanz der vier kleinen Schwäne" – oft mit männlicher Besetzung – parodiert worden.
Im Rahmen von explore dance wurde jetzt in der Potsdamer fabrik "Schwanensee in Sneakers" aufgeführt, das die Dresdner Choreografin Anna Till und die Regisseurin Nora Otte für Jugendliche ab 14 entwickelt und im Untertitel als "Auseinandersetzung mit Tanz" überschrieben haben.
Bei ihnen sitzt eine Frau im hautengen, weiß-schwarz gemusterten Ganzkörperdress und mit weißen Sneakern sehr aufrecht und beinahe bewegungslos allein an einem Tisch. Als sie zu ersten Tönen langsam aufsteht, wirken ihre Bewegungen beinahe roboterhaft.
Kurz darauf zieht sie sich ihren grauen engen Kleiderrock ganz über den Kopf und bewegt sich wie ein zweiteiliges Zwitterwesen sowohl auf Händen als auch Füßen vorwärts bzw. rückwärts laufend über den Boden. Diese Sequenz ist eine Reminiszenz an den Performer und Choreografen Xavier Le Roy und sein Stück "Self Unfinished", das 1998 Premiere feierte.
Weitere Verweise gibt es auch auf William Forsythes "Improvisation Technologies" von 1999 oder die deutsche Solistin des freien Tanzes Dore Hoyer (1911–1969) sowie die berühmte belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker.
Sicht- und erfahrbar wird, vom klassischen "Schwanensee" bis in die Gegenwart wurde ein vielgestaltiger Weg – musikalisch, tänzerisch, dramaturgisch, die Kostüme betreffend etc. – zurückgelegt und das Genre Tanz sukzessive erweitert bzw. bis hin zu angrenzenden Disziplinen wie Artistik oder Performance aufgeweicht. Anna Till vollführt mit und ohne Sneakers sowohl ganz alltägliche Bewegungen; sie zeigt auch Ballett- oder Kampfkunstposen oder eingefrorene Bewegungen/Posen eine:r Schreienden, Kämpfenden, Trauernden.
Parallel zu diesen vorgeführten Bewegungsmöglichkeiten erzählt sie die ursprüngliche "Schwanensee"-Geschichte in vier Akten und stellt dabei fest, das mit diesem fast 150 Jahre alten Ballett inzwischen überholte Geschlechterstereotype transportiert und so immer wieder gefestigt werden – wie so oft in der Kunst – in der Frauen sexualisiert werden und/oder als Produzent:innen unsichtbar sind.
Ihre eigene Protagonistin (alias Odile) ist kein zartes von einem übermächtig starken Prinzen zu rettendes Feenwesen, sondern eine selbstbewusste Frau, die in solche asymmetrischen Situationen möglicherweise gar nicht mehr gerät und wenn doch, dann selbst in der Lage ist, daraus einen Ausweg zu finden.
Und auf Zehenspitzen gehen muss sie auch nicht mehr und anstatt eines Tütüs trägt sie einen schicken Ganzkörperdress. Das quirlige Pop-up-Format macht Lust, mehr von zeitgenössischem Tanz zu erfahren. Allerdings ist es insgesamt ein sehr großer Aufriss sehr komplexer Zusammenhänge, für jüngere Kinder – wie in der fabrik-Vorstellung am Sonntagnachmittag – noch nicht wirklich nachvollziehbar.
Doch in Schulen mit anschließender Gesprächsmöglichkeit ist es eine gute Gelegenheit, den eigenen Blick in Hinsicht auf (zeitgenössischen) Tanz zu weiten.
Astrid Priebs-Tröger
Die Arbeit an diesem Artikel wurde "gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien im Programm NEUSTART KULTUR, Hilfsprogramm DIS-TANZEN des Dachverband Tanz Deutschland."